Vorratsdatenspeicherung: Auch EuGH-Gutachtern geht Geduld mit Politik aus
Der EuGH zeigt zunehmend weniger Verständnis für Politiker in den EU-Mitgliedsstaaten, die trotz eindeutiger Rechtslage und -sprechung weiter eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung fordern. Mit ungewöhnlich klaren Worten sorgte Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona, Gutachter des Europäischen Gerichtshofs, in einem Schlussantrag (Pressemitteilung) zum nächsten anstehenden EuGH-Urteil in der letzten Woche für Furore. Darin lässt er kein gutes Blatt an den Forderungen aus Frankreich, Deutschland und Irland, die eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung zur Verbrechensbekämpfung fordern. Die sei zur Verbrechensbekämpfung schlicht nicht zulässig.
FAZ: "Alle Fragen längst beantwortet"
Zwar ist das Gutachten mit dem vielsagenden englischen Titel "Advocate General’s Opinion in Joined Cases" eher ein Debattenbeitrag und keineswegs bindend, doch nicht selten folgt auch der EuGH in seinen Entscheidungen den Empfehlungen der Experten. Zur Vorratsdatenspeicherung soll in den ersten Monaten 2022 eine Entscheidung fallen. Geht es nach Sánchez-Bordona, ist die Sache seit Jahren glasklar: Immer wieder und umfassend habe man die Rechtslage erklärt, alle Fragen seien längst beantwortet, eine Vorratsdatenspeicherung sei eben nicht anlasslos möglich, sondern nur selektiv. Daran habe sich in all den Jahren und den vielen Anläufen nichts geändert.
Sánchez-Bordonas' Sprache ist für Juristen ungewöhnlich deutlich, Medien wie die FAZ interpretieren das Dokument auch deshalb als "Eine Niederlage mit Ansage" für die Politik. In der Tat: Immer wieder wundert sich der Gutachter, dass Staaten dieses ungeeignete und rechtswidrige Werkzeug immer noch forderten. Nach all den Urteilen des EuGH aus den letzten zehn Jahren hätte man doch erwarten können, dass die Debatte zu Ende sei. Der Gerichtshof habe seine Haltung detailliert erläutert und den Dialog mit den nationalen Gerichten gesucht. Ein konkreter Verdacht sei immer notwendig, ohne guten Grund dürfe der Staat nicht überwachen. Einzige Ausnahme dafür seien "Gefahren für die nationale Sicherheit", wie im vorliegenden irischen Fall:
"37. Nach Auffassung des Gerichtshofs kann die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten nur durch das Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit gerechtfertigt werden, dessen Bedeutung „die der übrigen von Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58 erfassten Ziele“ übersteigt(25)." (Original-Dokument hier)
Nicht einmal für schwere Straftaten, so der EuGH, ist es mit europäischen Werte und Grundrechten vereinbar, europäische Bürger mithilfe anlassloser Vorratsdatenspeicherung zu überwachen.
Diskussion ohne Ende?
Seit bald fünfzehn Jahren streiten sich Experten und Politiker. Die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung führen organisierte Kriminalität, Kinderpornographie, illegales Filesharing, neuerdings auch Hatespeech und andere Straftaten ins Feld. Ihre Gegner werfen ihnen vor, sich über Gerichte, Grundrechte und Werte hinwegsetzen zu wollen und dabei Gesetze und Urteile zu ignorieren. Nationale wie auch europäische Rechtsprechung waren jedoch immer konsistent, anders als die Politik: Der Bundestag führte die Vorratsdatenspeicherung erstmals 2007 ein, setzte damit eigentlich nur eine EU-Richtlinie um, die die Aufzeichnung aller Informationen, wer wann wo auf welche Weise kommuniziert hat vorschrieb. 2010 kassierte erst das Bundesverfassungsgericht die Regelung, 2014 hob der EuGH die EU-Richtline auf. Auch Sánchez-Bordona verweist auf die eindeutigen Urteile aus den Jahren 2014, 2016, 2018 und 2020 und wundert sich, dass die Debatte immer weitergehe, obwohl die Sachlage "unverändert" und die Urteile doch "endgültig" seien.
Industrie und Wirtschaft, zum Beispiel auch der Bundesverband der Internetwirtschaft ECO, stehen derweil geschlossen gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung. Im aktuellen Fall zogen zwei deutsche Provider vor den EuGH. Auch mailbox.org ist an einer Verfassungsbeschwerde beteiligt, die seit 2015 vor dem Bundesverfassungsgericht auf das Urteil des EuGH wartet. Dennoch - man mag es gar nicht glauben - ist der Kampf gegen den "Zombie" Vorratsdatenspeicherung keineswegs vorbei: Auch in den aktuellen Koalitionsverhandlungen ist sie ein Thema. FDP und Grüne sind dagegen, die SPD dafür, obwohl ihre eigenen Digitalexperten, beispielsweise in der Stiftung D-64 eine stark abweichende Meinung vertreten.
Autor: Markus Feilner
Update
Der Koalitionsvertrag übernimmt die Vorschläge der SPD-nahen Organisation D-64 und beerdigt die VDS. Ersetzt werden solle sie durch Konzepte wie die Login-Falle:
„Angesichts der gegenwärtigen rechtlichen Unsicherheit, des bevorstehenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs und der daraus resultierenden sicherheitspolitischen Herausforderungen werden wir die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert werden können. Mit der Login-Falle wollen wir grundrechtsschonende und freiheitsorientierte Instrumente schaffen, um die Identifizierung der Täterinnen und Täter zu erreichen.“
Mit der Login-Falle sollen Betreiber von sozialen Netzwerken gezwungen werden, über offene Standards mit Ermittlern zu kooperieren, die aber nur anlassbezogen Daten eines Logins bekommen dürfen, beispielsweise wenn eine Anzeige wegen Hatespeech oder Kinderpornographie vorliegt.