Innovationsfeindlich und unausgereift: Das neue Telekommunikationsgesetz im Bundestag

„Dieser Entwurf verspielt die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands“: Bei einer Anhörung als Sachverständiger im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestag kommt mailbox.org-Chef Peer Heinlein zu einem vernichtenden Urteil.

Am Montag (1. März) stand im Bundestag erneut die „Telekommunikationsnovelle“ (TKModG-E), also der neue Entwurf des Telekommunikationsgesetzes TKG im Fokus: Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie traf sich zu einer zweistündigen Expertenanhörung (auch als Video) mit Sachverständigen aus Industrie, Wissenschaft sowie Daten- und Verbraucherschützern.

Als einziger Vertreter eines Providers war auf Einladung des Wirtschaftsausschusses (auf Anregung von Anke Domscheit-Berg von der Links-Fraktion) unser mailbox.org-Chef Peer Heinlein dabei. Nach enger inhaltlicher Abstimmung mit unseren Freunden von Tutanota und mail.de verschaffte er den Anliegen der kleinen und mittelständischen Providern Gehör, während sonst nur Digital- und Breitbandausbau oder das Nebenkostenprivileg beim Anschluss von Mietshäusern im Vordergrund stand. Nur mailbox.org trat dafür ein, beim neuen TKG die wirtschaftlichen Auswirkungen zu berücksichtigen und für eine diverse, breit aufgestellte mittelständische innovative IT-Landschaft zu sorgen.

Wenn aus „Kunden“ „Benutzer“ werden

Peer Heinlein kritisiert in seiner Stellungnahme (hier vollständig als PDF) vor allem die unausgereiften Konzepte in der Novelle. Ein erstes großes Problem macht da schon die Umwidmung des Begriffes „Kunde“ oder „Teilnehmer“ aus dem alten Gesetzestext hin zu „Nutzer“ in der neuen Version. Das würde für erhebliche Rechtsunsicherheit sorgen, vor allem rund um Webmail-Portale und größere oder wachsende Mailinglisten.

Aber auch die anderen Aspekte der Novelle erweisen sich nach Ansicht von mailbox.org als mangelhaft: „Der Gesetzesentwurf verspielt die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und torpediert die IT-Strategie der „digitalen Souveränität“ der Bundesregierung“ erklärt Peer Heinlein. Kosten und Nutzen stünden in keinem Verhältnis, die Regelungen seien wenig durchdacht, Grenzen willkürlich gezogen und Ansätze wie der erneute Versuch, eine Vorratsdatenspeicherung umzusetzen dürften wohl kaum vor Gerichten Bestand haben.

Nur deutsche Provider werden zur Kasse gebeten?

Die neuen Ansätze zur Telekommunikationsüberwachung (TKÜ), Auskunftsverfahren (§§169,171 TKModG-E), die Regelungen zur Notfallvorsorge (§§ 183ff.), zur (automatisierten) Kommunikationssicherstellungspflicht (§184ff.) und die Regelungen zur Bestandsdatenerhebung (Vorratsdatenspeicherung, §175) – aus verschiedenen Perspektiven ergeben sich vielschichtige negative Auswirkungen mit gravierenden wirtschaftlichen Konsequenzen.

So verpflichte die vorliegende Regelung des TKModG-E lediglich deutsche Provider zu Maßnahmen wie in den §§169,171,172 TKModG-E. Das, so Heinlein, sei ein eklatanter Nachteil im internationalen Wettbewerb, unter dem vor allem kleinere Anbieter leiden, weil auch diese die Kosten der verpflichtenden Maßnahmen selbst schultern müssten. Anbieter aus dem Ausland brauchen sich da nicht daran halten - ein harter Schlag gegen den Standort Deutschland/Europa mit seinem guten Datenschutznormen.

Sollte dieser Entwurf Gesetz werden, erwartet Peer Heinlein einen großen Vertrauensverlust gegenüber dem Staat, weil dieser tief in die Gedanken- und Meinungsfreiheit eingreift und durch die vielen präventiven Maßnahmen ein permanentes Klima des Misstrauens schafft. Eine neutrale Evaluierung, die derlei Auswirkungen als Entscheidungsgrundlage einbezieht ist überfällig, hat jedoch im Vorfeld des Entwurfs nie stattgefunden.

Vollautomatische Überwachung

Noch härter ins Gericht geht Peer Heinlein mit den geplanten automatisierten Auskunfts-/Überwachungsverfahren (§§169ff. TKModG-E, TR TKÜV), die Telekommunikationsanbieter verpflichten, eine „präventiv installierte Überwachungsschnittstelle“ vorzuhalten. Die koste 75.000 bis 100.000 Euro im Jahr, ein Betrag den Startups oder mittelständische Anbieter nur schwer aufbringen können. Der Bundesverband der deutschen Internetwirtschaft eco e.V. verlangt hier, die Grenze auf 3 Millionen Teilnehmer anzuheben, eine Größenordnung, die auch Heinlein unterstützt, weil nur dann die Kosten (in der Relation zu den Umsätzen) nicht mehr als „marktzutrittsverhindernd“ einzuordnen sind. Aber auch hier fordert Heinlein eine qualifizierte, transparente und neutrale Untersuchung, die erklärt warum welche Größenordnung für einen Gesetzesentwurf gewählt wurde und ob automatisierte Überwachungsverfahren überhaupt sinnvoll vorgeschrieben werden sollten. Es ist enttäuschend, das auch hier keine derartige Evaluation stattfand.

Nicht totzukriegen: Die Vorratsdatenspeicherung

Erneut und ungeachtet zahlreicher, vorhersagbarer Niederlagen vor Gericht, nach verlorenen Rechtsstreits über Jahrzehnte und durch alle Instanzen hat der Gesetzgeber auch 2021 einen neuen Anlauf genommen, eine Vorratsdatenspeicherung (VDS) ins Gesetz einzubauen (§175 TKModG-E). Angesichts mehrfach festgestellten klaren Verfassungswidrigkeit dieses Ansinnens fordert mailbox.org die ersatzlose Streichung dieser Regelungen aus dem Entwurf.

„Es kann nicht sein, dass der Gesetzgeber immer wieder versucht die Grenze des Erlaubten auszutesten und zu überschreiten, um dann vom Bundesverfassungsgericht auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun“, so Peer Heinlein, der mit mailbox.org derzeit selbst eine (bis heute unentschiedene) Verfassungsbeschwerde gegen die VDS beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht hat.

Ein positiver Effekt einer wie auch immer gearteten VDS lasse sich ohnehin nicht belegen: Das Fehlen jeglicher negativen Auswirkungen in den letzten Jahren ohne VDS habe das nachhaltig bewiesen.

Autor: Markus Feilner

 

Update: BMI fordert Ausweispflicht für Telekommunikationsdienste

An der Expertenanhörung vom Montag vorbei, quasi durch die Hintertüre versucht Innenminister Horst Seehofer (CSU) klammheimlich die Totalüberwachung aller Bürger einzuführen.

Chatten nur mit Perso, Polizeiaufgaben an Unternehmen

Das Vorhaben des Bundesinnenministeriums, eine anlasslose, umfassende und per Personalausweis verifizierte Personenvorratsdatenspeicherung einzuführen, ist inakzeptabel. Es würde dazu führen, dass Benutzer sogenannte „nummerunabhängige Chat-Dienste“ wie WhatsApp, Zoom, Facetime oder iMessage erst benutzen dürfen, wenn sie dort die Daten ihres Personalausweises hinterlegt haben.

Strafverfolger erhielten umfassende Überwachungsmöglichkeiten, die denen einer Diktatur in nichts nachstünden, Unternehmen müssten weitreichende Aufgaben der Exekutive übernehmen. Da passt es ins Bild, dass auch das gewählte Verfahren zutiefst undemokratisch ist: Kritische Stimmen sind offensichtlich nicht gewollt, die Experten werden nicht gehört.

Fachliche Beratung ausgeschlossen

mailbox.org-Chef Peer Heinlein dazu: „Da sollten wir Sachverständigen wohl keine Stellung zu nehmen können, das Feedback von Experten scheint hier ausdrücklich nicht erwünscht. Die uns vorgelegten Dokumente hatten einen anderen Entwurfstext, wir hatten unsere Stellungnahme darauf angepasst.“

Wenn Herr Seehofer jetzt nach einem (über Monate) andauernden Diskussionsprozess und *nach* einer erfolgten Anhörung der Sachverständigen last minute mit diesen Forderungen daherkommt, ist das ein sehr, sehr fragwürdiges Verfahren. Sehr gerne hätten wir dazu vergangenen Montag im Ausschuss umfangreich Stellung genommen, doch der Innenminister scheut hier wohl den offenen demokratischen Prozess – und natürlich auch die fachliche Beratung durch Sachverständige, die ihm erläutern könnten, was eine solche Forderung politisch wie wirtschaftlich für Auswirkungen hätte.

Kein Interesse am demokratischen Prozess?

Hätte das BMI wirklich Interesse an einem demokratischen Prozess, dann führte kein Weg daran vorbei, den Gesetzesentwurf erneut den Sachverständigen im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages vorzustellen. Gerne nimmt mailbox.org bei einer erneuten zweiten Anhörung auch zu diesem Fragekomplex Stellung. Heinlein: „Selbstverständlich würden wir von mailbox.org ein solches Ansinnen als in hohem Maße zweifelhaft, einen zu starken Eingriff in die Grundrechte und auch wirtschaftlich schädlich ablehnen. Doch dies wäre in einem sauberen Prozess darzulegen und zu diskutieren.“

Der Katalog, den Netzpolitik.org hier komplett veröffentlicht hat, enthält tiefste Eingriffe, beispielsweise der Zwang zur „aktiven Mitwirkung von Unternehmen“ beim Ausspähen seiner Kunden (vergleichbar der NSA-Befugnisse). Bekannt wurde das Vorhaben erst nach Medienberichten, aber das BMI hat in der Regierungspressekonferenz vom 3. März 21 auf Nachfrage von Thilo Jung (Jung & Naiv) die Echtheit des ursprünglich von Posteo geleakten Dokuments bestätigt.

Auch die SPD zieht mit

Der Sprecher des BMI erklärte, der Katalog stehe „im Einklang mit dem Koalitionsvertrag“, ein Heise-Artikel bestätigt, dass auch die SPD kein Problem mit den „Änderungsvorschlägen“ habe. So besteht die große Gefahr, dass Teile der Vorlage schlimmstenfalls ungeprüft Eingang in das neue Gesetz finden, und würden dann fraglos vom Verfassungsgericht schnell wieder verworfen werden. Der Chaos Computer Club nennt das Ansinnen einen „beispiellosen Angriff auf Europäische Werte und das freie Internet.“ (Linus Neumann, bei Heise)